Fünf Jahre nach dem Start – Leseprobe

Nach dem zweijährigen Refit. Minuten nach der Wasserung des Bootes

Liebe Leser,

gestern haben wir beim Frühstück mit Blick in die Tageszeitung realisiert: Es ist genau fünf Jahre her, dass wir die Segel gesetzt haben. Und da sind wir ein wenig sentimental geworden … haben uns zurück erinnert, wie es damals war:

Wir waren 28 und 27 Jahre alt und wollten das große Abenteuer erleben. Einen Ozean überqueren. Ferne Länder bereisen. Die Freiheit unter Segeln spüren. Menschen auf einem anderen Kontinent kennenlernen. In andere Leben hinein schnuppern.

Lange und hart hatten wir darauf hingearbeitet. Über die letzten zwei Jahre vor der Abfahrt: Keine Freunde, keine sozialen Kontakte. Keine neuen Klamotten, keine Belustigung (Kino, Datenights, Partys, …). Jeden Euro dreimal umgedreht und letztlich ins Schiff gesteckt. Immer das große Ziel vor Augen: Die Abfahrt. An vielen Freitagen, an denen wir uns nach einer arbeitsreichen Woche in die Werfthalle schleppten, um dort noch bis 22 Uhr zu schleifen, konnte wir uns beim besten Willen nicht vorstellen, wie unsere Baustelle eines Tages segeln würde. Geschweige denn in türkisem Wasser. Als ich gestern ein Foto zu unserem Jubiläum bei Facebook gepostet habe, kommentierte ein Hallennachbar darunter: „Als ich die Maverick Too, so in der Halle rumstehen sehen habe, ohne Gelcoat, dachte ich bei mir: wenn dat man was wird… ob die loskommen? Ich bin beeindruckt von dem was Ihr gemacht habt. Hut ab.“ Das hat uns sehr gefreut! 🙂 

„Hart arbeiten“, das lese ich gerade häufig bei allerlei neuen Instagram-Seglern, die ein altes Boot kaufen, dazu eine Fotokamera und dann die Sofasegler in der Heimat an ihren Abenteuern teilhaben lassen wollen. Eine Weile habe ich eine junge Britin verfolgt. Ex-Crew auf der berühmten „Delos“. Ein Schiff, dessen Crew sehr früh und sehr hochwertig Youtube-Videos produziert hat und nun durch eine große Zahl an freiwillig zahlenden Followern jährliche Einkünfte im hohen sechsstelligen Bereich erzielt. Bei einigen segelnden Videobloggern scheint das zu funktionieren. Aber ich habe in den vergangenen Jahren auch immer wieder von unzähligen gehört, die mit der Einstellung „das wird mir genauso gelingen“ gescheitert sind. Häufig fehlt das nötige Glück, genau die Sympathie der User zu treffen, meist aber auch der Ehrgeiz und das Durchhaltevermögen.

Die Britin jedenfalls ging von Bord der „Delos“ und kaufte sich eine alte, abgehalfterte Amel ohne Masten. Hurrikan-Schaden und viele Jahre auf dem Boatyard vor sich hin gegammelt. Jeder Post begann mit einem „Wir arbeiten soooo hart, damit wir euch (Zuschauer) mitnehmen können auf unsere Reise.“ Und dann jedes zweite Foto aus irgendeiner Kneipe, in lustiger beschwipster Feierlaune. Und am Boot geht und geht es seit eineinhalb Jahren nicht voran. Klar, immer wurde das Geld versoffen, statt es ins Boot zu stecken. Irgendwie werden bei vielen die Prioritäten falsch gesetzt. Ganz vorn sollte die eigene Basisverpflegung stehen, dann die Erhaltung der Seetüchtigkeit des Bootes. Alles andere ist Luxus. Anders geht es (zumindest in jungen Jahren) nicht. Wer ständig Party macht, der schafft nichts. Mit diesem Wissen sind wir an den meisten Strandbars der karibischen Inseln vorbeigelaufen. Auch, wenn wir gern reingegangen wären. Und letztlich hat auch das britische Mädel nun aufgegeben, das Schiff verkauft. 

„Wann wird es endlich mal wieder Bilder geben, auf denen ich hübsch aussehe?“

Aber wir sind fertig geworden. Und waren es am Ende auch nervlich. Bei der Wasserung liefen Tränen. Und nach einer Woche unterwegs kam der Druckabfall. Ich war ständig krank. Der Körper wollte nicht mehr nach all dem Stress. 

Zwei Jahre waren geplant. Doch angekommen in der Karibik sagte uns unser Freund Herbert damals schon „Ihr könnt nicht nur zwei Jahre unterwegs sein. Nachdem ihr so viele Jahre darauf hingearbeitet habt.“ Wir haben auf ihn gehört. Und die Möglichkeit bekommen zu verlängern. Wofür wir sehr, sehr dankbar sind.

Im Kielwasser liegen nun gut 35.000 Seemeilen. 15.000 Seemeilen mit „Maverick too“, etwa 20.000 Seemeilen mit „Maverick XL“. Wir hätten uns damals wirklich nicht erträumt, wohin uns diese Reise führen wird. Und dass wir quasi als Familie zurück nach Hause kommen. 

Es ist toll, dass wir die Reise mit „Maverick too“ so schön handlich im Regal stehen haben und uns selbst daran erinnern können, wie es damals war. So posten wir hier nun ein Kapitel unseres Buches. Es sollte eigentlich enorm eingekürzt werden, doch es war mir wichtig, dass es komplett im Buch landet. Denn für mich ist es wichtiger Bestandteil der Reise.

Rückblick – Anlauf nehmen

Von Johannes.

Das Schwierigste daran, den Traum einer Langfahrt real werden zu lassen, liegt tatsächlich darin, loszukommen. Über Jahre hinweg habe ich bei der Yacht Leseranfragen zum Thema Langfahrt betreut. Ständig meldete sich jemand mit großen Plänen. Einhand, zweihand, nonstop, rückwärts, diagonal um die Erde, zweimal nonstop um die Erde, im Katamaran durchs Südpolarmeer, einhand mit 16 Jahren, 14 Jahren, zwölf Jahren … Die Menschen waren und sind erfinderisch. Ich habe mir anfangs sehr große Mühe gegeben, ihnen mit Rat und Tat beizustehen. Und, klar, die meisten wollten von uns Hilfe bekommen. Ob durch Publicity oder finanziell. Einige erwarteten gar Komplettfinanzierungen der gesamten Reise. Möglichst vorab.

„Aber die wenigsten dieser großen Träume wurden umgesetzt. In den ersten Jahren saßen wir Verlagsleute häufig nach den Bootsmessen noch zum Abendessen zusammen. Da habe ich mich mal mit Bobby Schenk über diese Träumer unterhalten und meinte: „Muss ich die alle für bare Münze nehmen? Ich wette, nicht mal zehn Prozent davon fahren wirklich los.“ Bobby, der nun wirklich schon sein ganzes Leben mit den Langfahrern zu tun hat, sah das noch nüchterner: „Ich schätze, es ist nicht mal ein Prozent.“

„It’s a dream. Until you write it down. Then it’s a goal“, habe ich mal gelesen. Das hat sich mir eingebrannt. Und mehr noch: „A goal is a dream with a schedule.“ Bei der Umsetzung eines Traums geht es immer irgendwann darum, die Eckpunkte festzusetzen, einen Plan mit Terminen zu machen und das Ganze aufzuschreiben. Wer auf Blauwasserfahrt gehen will, aber keinen festen Abfahrtstermin hat, wird nie losfahren. „Wir fahren los, wenn alles fertig ist“, habe ich über all die Jahre immer wieder von angehenden Blauwasserseglern gehört. Und danach nie wieder etwas von ihnen. Denn wenn dies der Plan ist, wird er nie erfüllt werden. Schiffe werden niemals vollkommen fertig.

Ich habe für mich schon vor vielen Jahren definiert, dass mein Schiff maximal 90 Prozent in Ordnung sein muss. Denn irgendwas ist immer nicht optimal. Wichtig und essenziell ist, dass alle Dinge, die für die Seetüchtigkeit, Navigation, Sicherheit und Schiffsführung nötig sind, vollständig und in Ordnung sind. Optik ist egal, Bequemlichkeit und Komfort auch. Häufig sind es die persönliche Bequemlichkeit und vorgeschobene Gründe, die einen Segler daran hindern, Langfahrtsegler zu werden. Und natürlich das Wetter. So oft hört man von Seglern: „Wir wollten ja gerne, aber das Wetter hat nicht gepasst.“ Auf den 15.000 Seemeilen unserer Atlantikrunde sind wir auf dem Nordatlantik drei Tage vor einem Tief hergesurft, das uns 45 Knoten Wind und acht Meter Welle beschert hat. Das war der einzige Moment, über den ich sagen würde, ich wäre lieber im Hafen geblieben. Alle anderen Situationen – ob Schietwetter, Wind von vorn, kabbelige See oder Starkwind – waren unbequem, aber durchaus machbar. Meist war es in unserem sicheren Schiff noch nicht einmal wirklich unangenehm. Die meisten Hindernisse existieren also wirklich nur im Kopf.

Der Tag der Abfahrt ist für viele Segler schwer. Die Tränen der Familie, das Überwinden der Ungewissheit, was alles passieren wird – auf der Reise, aber auch während der Abwesenheit. Wie viel Zeit mit der Familie verschenkt man? Gerade, wenn die Eltern schon älter sind, fällt das schwer. Ist die Reise es wert, die kostbare, knappe verbleibende Zeit zu opfern? So ging es uns auch.“

„Kaum liegt die Hafenmauer dann aber im Kielwasser, fallen zahlreiche Sorgen ab. Dann ist voraus der Horizont zu sehen. Neue Erlebnisse, Abenteuer warten auf einen.

„Maverick 1“ im Dezember 2005

Der Zeitraum vom ersten Aufblitzen des Traums bis zur Realisierung kann allerdings bei manchen Menschen sehr hart und lang sein. Vor allem, wenn kein fester Plan existiert. Und bei mir noch zusätzlich erschwerend: keine Perspektive. Denn ich wusste, ich würde in absehbarer Zeit weder über die nötigen Reichtümer verfügen, um ein gutes Boot zu kaufen und eine Reisekasse anzuhäufen, noch über die nötige Zeit.

Dabei habe ich den Entschluss, noch eine große Reise machen zu wollen, schon damals gefasst, als ich 2006 meine kleine MAVERICK in Charleston verkauft und den Heimweg per Flieger angetreten habe. Damals waren für mich der Kurs und der Zeitplan klar: Jetzt schnell das Studium hinter mich bringen, etwas Geld verdienen, ein Schiff selbst bauen, Reisekasse verdienen und dann wieder los. Doch letztlich lagen zwischen dem Entschluss und der Abfahrt acht lange, entbehrungsreiche Jahre.“

„Anfangs lief alles nach Plan. Einen Monat nach dem Ende meiner Reise mit meiner Fellowship 27 fand ich mich in einem Hörsaal in Kiel wieder, zwischen 300 anderen Studenten, von denen immerhin gut 40 ebenfalls den Studiengang Schiffbau belegt hatten. Die Wahl des Studienfachs war für mich klar. Ich hatte schon als kleiner Junge Modellboote konstruiert und gebaut und konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als meine Bootsideen aus Holz und GFK an mir vorbeischwimmen zu sehen.

Doch das Grundstudium war dröge und zäh. Viel Mathematik, mit der ordentlich gesiebt wurde. Mathe lag mir nie sonderlich. Dafür technisches Zeichnen und CAD. Und dann war da immer noch der Ozean, der mich nicht losließ. Und verlockende Angebote. So sollte ich zum Beispiel zu einem Segelverein nach Bünde kommen und einen Vortrag halten. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Vor allem, weil es dafür auch noch 300 € geben sollte. Also erstellte ich an den Abenden in meinem WG-Zimmer eine Präsentation, schnitt Videos mit Musik, verlud meinen PC und meine Stereoanlage ins Auto und machte mich auf den Weg nach Bünde in Ostwestfalen. „Dort kam ich mit eineinhalb Stunden Puffer an, ging ins Wirtshaus und sagte dem Wirt, dass ich für einen Vortrag hier sei. „Der geht erst um sieben los, da ist noch keiner da.“ Also saß ich im Auto und wartete. Als ich nach einer halben Stunde wieder ins Wirtshaus kam, sagte mir der Wirt nur: „Immer noch zu früh.“ Zurück ins Auto. Eine halbe Stunde vor Beginn des Vortrags wagte ich einen letzten Versuch. Der Wirt fing gleich an: „Ich hab dir doch gesagt, dass es erst um sieben losgeht …“ „Ja, ja, aber ich muss ja noch aufbauen“, erwiderte ich. „Ach, DU bist der Vortragende? Mensch, wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr!“

Meinen allerersten Vortrag hielt ich also vor etwa 70 Mitgliedern der Hochseesegler-Gemeinschaft Bünde. Ein lustiger, sehr angenehmer Abend. Es machte mir riesig Spaß, die Leute mit auf mein Abenteuer zu nehmen. Doch geriet der Vortrag viel länger als gedacht, da ich ihn nie vor Publikum geübt hatte. Ich klickte fleißig 350 Bilder durch und erzählte zweieinhalb Stunden lang Geschichten und Anekdoten. Trotzdem schien keiner gelangweilt. Deshalb habe ich den Vortrag über die Jahre in der Form fast genauso beibehalten, jedoch auf gut eineinhalb Stunden gekürzt.“


„Maverick too“ schwimmt. Juni 2014

„Schon in der Karibik hatte mich der Delius Klasing Verlag gefragt, ob ich nicht ein Buch über meine Reise verfassen könnte. „Was für eine Ehre“, dachte ich damals, denn ich hatte schon immer gehofft, irgendwann mal ein Buch veröffentlichen zu können. Doch jetzt, zurück in Deutschland, hatten die Verantwortlichen mein Abschlussinterview in der Yacht gelesen. Und da stand dick und fett: „In vier Jahren möchte ich wieder los. Und dann ganz um die Welt.“ Daher zogen sie das Angebot wieder zurück, denn sie wollten lieber gleich das Buch über die Weltumsegelung. Dabei war ja gar nicht klar, ob diese überhaupt stattfinden würde. Plötzlich musste ich also dafür kämpfen, dass nun doch ein Buch über meine erste Reise entstehen sollte. „Der jüngste deutsche Einhand-Atlantikübersegler“ war mein Argument. Ich sollte Probekapitel liefern und bekam dann doch die Zusage. Allerdings sollte das Buch in sechs Wochen fertig sein. Ich fing an zu tippen. Aber neben dem Studium war nur jeden Abend etwas zu schaffen. Denn gerade im ersten Semester musste ich viel Arbeit ins Studium stecken.

Während ich in Sachen Segelei also einen kleinen Höhenflug erlebte, sackte ich im Studium immer mehr ein. Ich musste mich entscheiden: „Lasse ich das Studium sausen oder das Buch? Schnell hatte ich eine Lösung: Die Semester könnte ich immer noch nachholen, aber die Kuh „Segelei“ musste gemolken werden, solange sie Milch gab. Also setzte ich alles daran, ein gutes Buch abzuliefern. Zum Glück bekam ich auch noch einen Aufschub für die Abgabe und konnte die ganzen ersten Semesterferien von morgens bis abends daran arbeiten.

Doch die Kuh gab immer mehr Milch. Und ich molk. Nahm jede Einladung an. Zigmal flog und fuhr ich sogar in die Schweiz und hielt meine Vorträge. Doch ein guter Geschäftsmann war ich nie. Für Jugendgruppen und Kirchen fuhr ich oft nur gegen Spritgeld quer durch Deutschland. Abzüglich der Spritkosten blieben aber auch bei bezahlten Vorträgen manchmal nur 50 € Gewinn übrig. Doch das „Tourleben“ gefiel mir. Um die Vorträge halten zu können, nahm ich mir jeweils einen Tag von der Uni frei. Dass ich dabei neben meinen Nebenjobs zu viel Stoff sausen ließ, merkte ich erst, als ich eines Morgens mit den Worten „Moin, Herr Erdmann. Schön, dass Sie’s einrichten konnten“ begrüßt wurde.“

Endlich zu Wasser. Juni 2014. Erleichtert und glücklich.

„Nach drei Semestern zog ich 2009 dann den Schlussstrich. Mein Plan war, ab Herbst entweder Internationale Fachkommunikation in Flensburg oder Journalismus in Berlin zu studieren. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken und schon mal ein wenig Erfahrung zu sammeln, vermittelte mir Wilfried Erdmann ein Praktikum bei der Yacht in Hamburg. Und ein neuer Lebensabschnitt begann.

Jeden Morgen pendelte ich ab März von Kiel nach Hamburg und begann, erste Kurzmeldungen und Online-Artikel zu schreiben. Schon nach knapp zwei Wochen sollte ich eine Seite mit Hintergrundinformationen für einen Historienartikel von Arved Fuchs abliefern. Vor dem Artikel stand dann „Verfasst von Arved Fuchs in Zusammenarbeit mit Johannes Erdmann“. Als ob wir zusammen an dem Text gesessen hätten. Ich bekam immer größere Aufgaben und war zugleich sehr überrascht, was für ein Vertrauen die Abteilung und vor allem mein Chef in mich legten.

Nach drei Monaten bot man mir dann sogar ab September ein Volontariat an, das die meisten Journalisten erst nach einem abgeschlossenen Studium bekommen. Parallel dazu sollte ich an der Akademie für Publizistik mein Handwerkszeug lernen: schreiben, fotografieren, filmen und schneiden. Ein sehr verlockendes Angebot. Doch bis dahin hatte ich noch zwei Monate Zeit, mich zu entscheiden.„Und zum Nachdenken hatte ich den besten Ort der Welt – den Atlantischen Ozean.

Den Weg finden

Auf einer „Hanseboot“ hatte ich den Bootsbauer und Knotenspezialisten Egmont Friedl kennengelernt, der sich gerade in den USA ein Schiff gekauft hatte. Nach einem Sommer in der Chesapeake Bay überlegte er nun, das Schiff nach Europa zu segeln, und suchte noch einen Mitsegler. Klar, dass ich da nicht lange überlegen musste. Also flogen wir Anfang Juni 2009 in die USA und übernahmen das Schiff in Deltaville, Virginia. Wir rüsteten die GAVDOS x aus, verproviantierten uns und machten dann noch einen Abstecher nach New York, um ein letztes amerikanisches Steak zu essen.“

„Der Weg über den Nordatlantik hatte es dann in sich. Wir segelten, wie laut Handbuch empfohlen, auf 40° Nord, waren aber immer zu weit nördlich und bekamen auf der nördlichen Seite der Tiefs immer Gegenwinde ab. Zwei Stürme wetterten wir mit dem schweren und breiten, aber nur 32 Fuß langen Colin-Archer-Nachbau ab. In einem Sturm drehten wir einen Tag lang bei und erlebten einen Knock-down in einer großen Welle. Der Mast lag flach auf dem Wasser und es ging viel kaputt. Doch nach drei Wochen erreichten wir die Azoren bei herrlichem Wetter.

Ich hatte geglaubt, ich hätte während der Überfahrt Gelegenheit, mir darüber klar zu werden, wohin mein Leben gehen sollte. Doch die ganze Überfahrt drückten mich Sorgen, die sogar Magenschmerzen verursachten. Einmal natürlich das Wetter, das rauer als erwartet war, dann vor allem auch Sorgen um meine Freundin Cati.

Diese hatte ich erst vor einem halben Jahr kennengelernt und wusste früh: „Die gehört zu mir.“ Gesegelt war Cati noch nie richtig, aber meine Geschichten von fernen Inseln und dem blauen Ozean gefielen ihr, und wir hatten begonnen, gemeinsame Reisepläne zu schmieden.“

„Als ich Deutschland verließ, erzählte sie mir noch, dass sie sich gerade ständig komisch fühle, schwindelig, und ab und zu beim Fahrradfahren sogar mit dem Fuß vom Pedal abrutsche. „Du musst dringend zum Arzt“, sagte ich ihr. Doch dann ging mein Flieger, und ich war bereits in den USA, als sie sich endlich durchchecken ließ. Der Arzt schickte sie relativ schnell in eine Spezialklinik und dort ins MRT. Es waren einige helle Stellen in ihrem Gehirn zu sehen. Worum es sich dabei handelte, konnte man nicht sagen. Irgendwelche Entzündungen. Möglicherweise Multiple Sklerose? Diese Vermutung kam schnell, denn ihre Mutter hat diese Krankheit, und bei Familienmitgliedern ist die Chance, ebenfalls daran zu erkranken, zumindest minimal erhöht. Es tat mir weh, sie per Skype im Krankenhaus liegen zu sehen und zu erfahren, welche unangenehmen Untersuchungen sie über sich ergehen lassen musste. Dann kam die freudige Nachricht: „Der Arzt sagt, dass es ganz sicher keine MS ist“, verkündete sie. „Wahrscheinlich war es nur ein Zeckenbiss.“ Eine Woche später, eine halbe Stunde, bevor wir in New York ablegten, dann die Korrektur: „Es ist doch MS.“

Frisch ein Paar im Mai 2009

„Während Cati relativ gelassen war, da sie die Krankheit seit vielen Jahren von ihrer Mutter kannte, brach für mich erst mal eine Welt zusammen. Ich dachte viel an sie und schrieb ihr täglich Mails. Und es zerriss mir das Herz, dass ich nicht bei ihr sein und sie im Krankenhaus besuchen konnte. Als ich vier Wochen später dann in Hannover landete, war ihr von dem Elend nichts anzusehen. Sie war etwas dünner geworden, aber lustig und munter wie immer.

Bereits im April hatte ich ein kleines Segelboot gekauft, denn ich wollte meiner neuen Freundin unbedingt das Segeln beibringen, hatte aber kein Boot. Also hatte ich mich schlaugemacht, was eine Charter über Ostern kosten würde. „Gut 650 €? Das ist viel für ein Wochenende.“ Eines Morgens hatte ich dann aber zufällig eine alte Hurley 22 bei eBay entdeckt. Die Auktion sollte in acht Stunden enden und das Höchstgebot lag bei 650 €. „Für den Preis könnte ich also sogar ein Boot kaufen!“ Verlockend. Ich schaute aufs Konto: 1.300 € übrig. Also bot ich 1.300 €.

Abends waren wir zum Essen eingeladen, und ich hatte das Gebot längst vergessen. Da bimmelte mein Handy. „Herzlichen Glückwunsch“, schrieb mir eBay per SMS. „Sie haben ›Hurley 22 Segelboot‹ für 1.290 € ersteigert!“ Unfassbar. Plötzlich hatten wir ein Boot.

Eine Woche später fuhren wir nach Fehmarn, um es zu begutachten. Länge: 6,60 Meter. Baujahr: 1968. Gewicht: 2,2 Tonnen! Cati fand es riesig groß, und ich war ebenfalls von dem vorhandenen Platz überrascht. Doch in der Kajüte gab es einiges zu tun, und irgendwas stank gewaltig. Die Teppiche und Wände waren verschimmelt, das Schott hatte Wasser gezogen, die Bordwände waren zerschrammt. Also kaufte ich im Bootsladen nebenan Essigreiniger, einen Eimer, zwei Töpfe Farbe, Rollen, Antifouling, Schleifpapier und Klebeband. Während Cati in der Kajüte mit Atemschutzmaske und Putzlappen eine erste Beziehung zum Schiff herstellte, ging ich mit Schleifpapier einmal 6,60 Meter bis zum Bug und 6,60 Meter bis zum Heck schleifend an der Bordwand entlang. Dann noch mal mit der Farbrolle und blauer Farbe. Am nächsten Tag strichen wir Antifouling und hatten nach zwei Tagen Arbeit ein tolles Anfängerschiff für die erste Saison.“

Cati und unser erstes gemeinsames Boot, eine Hurley 22. Mai 2009

„Nach meiner Rückkehr aus den USA wollte Cati nun unbedingt mit mir segeln gehen. Sie hatte in meiner Abwesenheit im Krankenhaus einige Segelbücher gelesen und wollte unheimlich gern eine Nachtfahrt erleben. „Das klang alles so romantisch. Das rauschende Wasser, die Sterne, das Leuchten im Kielwasser …“, schwärmte sie. Also führte uns schon die dritte Ausfahrt über Nacht hinüber nach Dänemark. Bis dahin waren wir mangels Wind fast nur motort.

Mit der letzten Brückenöffnung verließen wir die Schlei und setzten Segel. Doch der Wind war viel stärker als angesagt. Etwa 5 Beaufort wehten aus Osten, und das Schiff preschte hoch am Wind nach Søby auf Ærø. Wir hatten uns ausgemalt, dass einer ja schlafen und einer segeln könne – aber Cati hatte so große Angst, dass ich nicht mal kurz aufs Vorschiff gehen konnte, um Segel zu wechseln. Dabei war der Mast kaum mehr als einen Meter vom Cockpit entfernt. Das Boot entpuppte sich als sehr frühe Version des Wavepiercer-Konzepts: Statt über die Wellen zu schweben, tauchte der schwere Langkieler immer brachial mitten durch sie durch. Viel Wasser ging über Deck und gelangte ins Cockpit. Und wir hatten kein Ölzeug dabei. Dazu gab es noch andere Probleme: „Öhm, ich müsste mal“, sagte Cati nach etwa der Hälfte der Überfahrt. „Dann musst du wohl auf den Eimer gehen“, erklärte ich ihr. Aber das war für sie bei dem Plexiglassteckschott keine Option. Also kniff sie zusammen und hielt an.

„Noch fünf Seemeilen, dann sind wir im Hafen“, sagte ich gegen 1 Uhr morgens und ergänzte: „Etwa eine Stunde.“ Doch so sicher war ich mir nicht. Ich konnte nicht von der Pinne weg, und meine Navigation war sehr grob. Ich hatte gegen 23 Uhr schnell einen Wegpunkt ins GPS getickert, um dann eilig wieder nach oben zu kommen. Ich hoffte inständig, dass es die richtigen Koordinaten waren. Doch als wir dann bis auf eine halbe Seemeile an den Wegpunkt heran waren und noch keine Uferbeleuchtung sahen, wurde ich skeptisch und ging noch einmal zur Karte unter Deck. „Upps, hab mich vertan. Ab jetzt noch eine Stunde“, erklärte ich kleinlaut.“

„Als wir dann um 4 Uhr morgens in den Hafen von Søby einliefen, konnte es Cati nicht mehr aushalten. Ungefähr zehn Meter vor der Box sprang sie auf, eilte unter Deck und setzte sich auf den Eimer, während ich die Leinen festmachte.

Die Kajüte war ein einziges Chaos. Dazu schien die Vorschiffsluke zu lecken. Alle Polster waren klitschnass, und eigentlich war mir klar, dass Cati nach diesem Erlebnis nie wieder auf ein Boot steigen würde. Doch als sie sich in der Koje, die ich zwischenzeitlich gegen die Nässe mit Mülltüten abgedeckt hatte, auf die andere Seite drehte, murmelte sie müde, aber zufrieden: „Das haben wir geschafft. Schlimmer gehts ja eigentlich nicht mehr. Dann kann es morgen nur besser werden.“

Mit Cati hatte ich also ein tolles Mädchen gefunden, das alle Segelabenteuer mitmachen würde. Aber eigentlich war das für mich gerade ein etwas blödes Timing, denn im Grunde war ich seit Winter 2008/09 dabei, ein neues Einhandabenteuer vorzubereiten und Unterstützer für eine eigene Nonstop-Reise zu finden. Ich machte mir große Hoffnungen, denn ich hatte ja bereits eine erfolgreiche große Reise hinter mir und darüber ein Buch geschrieben, das sich blendend verkaufte. „Dazu war die Summe, verglichen mit einer großen Hochseeregatta wie der Vendée Globe, überschaubar. Statt mehreren Millionen war ich nur auf der Suche nach einem Schiff. Der Einsatz lag also etwa bei 100.000 €, die durch den anschließenden Bootsverkauf in etwa wieder reinkommen würden.

Also schrieb ich Briefe und verschickte Infomappen mit Zitaten diverser bekannter Segler über mich, mit denen ich Kontakt hatte. Es musste doch zumindest jemanden geben, der mir Geld für ein Schiff leihen und den Wertverlust ausgleichen würde. Die Reisekosten könnte ich vermutlich selbst aufbringen. Vor allem beim größten Arbeitgeber meiner Heimatstadt Wolfsburg hatte ich große Hoffnung, schlug vor, das Schiff BLUE MOTION zu nennen und mit Volkswagen eine tolle Werbekampagne für weite Reisen mit wenig Kraftstoffeinsatz zu machen. Doch ich bekam nur Textbausteinantworten zurück, dass man sich entschieden hätte, nur Golf- und Reitveranstaltungen zu sponsern.“

„Als die Yacht Wilfried Erdmann 2008 zum 40. Jubiläum seiner ersten Weltumsegelung bat, einmal aufzuschreiben, was sich in den 40 Jahren alles verändert hatte, schlug er vor, stattdessen einen Tag mit mir segeln zu gehen und sich mit mir über den Unterschied unserer Generationen zu unterhalten. Dabei fiel ihm der Name PATHFINDER meines damaligen Bootes auf. Dieser gefiel ihm. „Der Name passt“, schrieb er, „denn der junge Mann versucht, seinen Weg zu finden.“

Doch welcher Weg würde das sein? Einhand? Oder zu zweit? Das wusste ich immer noch nicht. Jetzt war ich jung, gesund und kräftig. Motiviert. Voller Hunger auf die See. Nonstop würde sich jetzt zu diesem Lebenszeitpunkt anbieten. Keine Kinder, keine Familie, keine Karriere im Job. Aber wie lang würde Cati noch so gesund sein, mit der schrecklichen Diagnose? Denn auch eine Reise mit ihr zusammen wäre unheimlich schön. Das alles mit ihr zusammen zu erleben. Ein ganz anderes Segeln als nonstop allein. Und vielleicht wäre so eine Reise auch genau das Richtige für sie, nach all den Jahren im Jurastudium, als Belohnung für all den Stress. Stressig würde das auch werden, das war klar. Aber selbst gewählter, „positiver“ Stress.“

„Doch dann kam im Sommer 2012 ihr Erstes Staatsexamen und änderte alles. Der Stress machte Catis Gesundheit sehr zu schaffen. Doch sie hielt durch und schaffte jede Klausur, obwohl ihr während der letzten Klausur zunehmend schwindelig wurde. Am nächsten Morgen bekam sie die Quittung für all den Stress, den MS-Patienten tunlichst vermeiden sollten. Sie fiel im Bad um und konnte nichts mehr. Nicht reden, nicht sich bewegen, gar nichts. Der Krankenwagen kam und holte sie ab. Es dauerte Monate, bis sie sich wieder erholt hatte. Immer wieder fehlten ihr ganze Sequenzen ihres Lebens, die das Hirn einfach gelöscht hatte. Auch mitten im Gehen verlor das Gehirn zeitweise die Kontrolle über den Körper, sie stolperte und humpelte, bewegte sich in Zeitlupe. Dann war die Kontrolle plötzlich wieder da, so als wäre nichts gewesen.

Die Folgen des Examens machten mir Angst. Und dann war sie auch noch ganz knapp durchgefallen.

Schon beim monatelangen Lernen für den nächsten Versuch wurde klar, dass dieses Mal noch mehr Druck auf ihr lag, und ich legte ihr nahe, das Studium abzubrechen. „Abbrechen? Nach so vielen Jahren? Dann bin ich 25 und habe nur Abitur!“ Das konnte und wollte sie nicht. „Doch die Gesundheit war wichtiger, und so entschloss auch sie sich im Mai 2013 nach einiger Bedenkzeit, abzubrechen. Danach fiel sie in ein Loch, aus dem sie erst durch einige Praktika langsam wieder herausfand.

Damit fiel auch für mich eine Entscheidung: Erst möchte ich mit Cati auf Reisen gehen. Wenn jetzt die Zeit ist, zusammen zu segeln, dann segeln wir jetzt zusammen. Also setzte ich eine neue Website auf, was für mich der bislang größte Schritt meines Lebens war. Denn dadurch ging ich nicht nur eine feste öffentliche Bindung, sondern auch eine Verpflichtung ein. Ich hatte Cati zugeredet, das Studium aufzugeben, nun war ich auch für sie verantwortlich. Die alte Website hieß www.allein-auf-see.de, die neue folgerichtig www.zu-zweit-auf-see.de.“

„Das Boot für unsere gemeinsame Langfahrt hatten wir zufällig gerade gekauft: eine 42 Jahre alte Contest 33, die ich 2012 als OLGA in Holland gekauft und MAVERICK TOO getauft hatte. Das Schiff war optisch gar nicht so schlecht in Schuss. Doch unter Lack und Gelcoat verborgen saßen etliche Osmosenester, die ich glücklicherweise bereits vor dem Kauf gefunden hatte. So konnte ich den Preis enorm drücken. Nach dem Kauf im Januar fuhren wir alle paar Wochen nach Holland, schliefen bei Eis an Deck in der Kajüte, gewärmt von einem Heizlüfter, und begannen, das Schiff für die Überführung nach Deutschland vorzubereiten und erste Inventuren zu machen. Die Überführung durch die Staandemast-Route war toll. Mit mir an Bord waren meine Eltern, während Cati in Kiel fleißig für ihr erstes Staatsexamen lernte.“

„Zum Herbst 2012 ging MAVERICK TOO in Neuhaus an der Oste an Land. Nach zwei Jahren in einer Einzimmerwohnung in Hamburg hatte ich mir dort nämlich im Sommer ein riesengroßes altes Haus gekauft. Zu einem Preis, zu dem man in Hamburg höchstens eine Garage erwerben könnte. Ich hatte jeden Monat 570 € Miete für 40 Quadratmeter in Wandsbek gezahlt und zahlte nun monatlich dieselbe Summe an die Bank zurück. In 14 Jahren sollte das Haus mit seinen 200 Quadratmetern Wohnfläche abbezahlt sein. Und dazu eröffnete es mir bootsbautechnisch ganz neue Möglichkeiten, denn meine neue Werkstatt, die ans Haus angeschlossene Schmiedehalle, maß zehn mal sechs Meter und hatte dreieinhalb Meter hohe Decken. Nur das Tor war 15 Zentimeter zu schmal, sonst hätte sogar MAVERICK TOO hineingepasst. Zu allem Überfluss lag das Haus genau am Deich, auf dessen anderer Seite sich ein privater Bootssteg mit zehn Metern Länge befand. Ein perfekter Wohnort für jeden Segler.“

Auszug aus: Erdmann, Cati & Johannes. Zu zweit auf See: Auf Schlingerkurs ins Segelabenteuer